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Die Tragödie eines Volkes

von Orlando Figes

Das meisterhafte Buch des englischen Professors für Geschichte Orlando Figes „Russland. Die Tragödie eines Volkes: Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924“ versetzt den Leser in die wirren Zeiten rund um die Oktoberrevolution 1917. Dem Autor gelingt es, die komplexen Geschehnisse und Zusammenhänge mit einer erstaunlichen Leichtigkeit zu schildern, so dass sie für jeden verständlich werden.

  • Die Tragödie eines Volkes
  • Russland. Die Tragödie eines Volkes, Buch von Orlando Figes
  • „Mein Ziel war es“, schreibt Figes „das Chaos dieser Jahre aufzuzeigen, wie es gewöhnliche Frauen und Männer empfunden haben müssen.“ In Tagebüchern und privaten Aufzeichnungen kommen Zeitgenossen unterschiedlicher gesellschaftlicher Kreise zu Wort.
  • Aktueller Preis und weitere Informationen

Die Erzählung scheint objektiv und exzellent recherchiert. Wer dieses spannende und lebendige Buch gelesen hat, wird nicht nur die russische Revolution, sondern auch das moderne Russland besser verstehen.

Als eines der wichtigsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts hat die russische Revolution die Weltgeschichte enorm beeinflusst. Im Gegensatz zu den zahlreichen historischen Analysen, ist das Buch von Figes kein theoretisches Werk, sondern eine spannende Berichterstattung über die Schicksale einzelner Leute, die zu einem Schicksal für das ganze Land wurden. Ob Zar, seine Minister, adelige Gutsherren oder einfache Bauern – jede einzelne Persönlichkeit spielt hier eine wichtige Rolle.

Dabei wird der letzte russische Zar Nikolai II nicht als Opfer, sondern als ein schwacher Charakter und unfähiger Politiker dargestellt. Dadurch, dass er die Anforderungen der modernen Welt nicht erkannte und so zu regieren versuchte wie es seine Vorfahren im 17. Jahrhundert getan haben, hatte er für eine wachsende Unzufriedenheit in seinem Reich und in seiner eigenen Familie gesorgt.

Doch dem Zar alleine die Schuld zu geben wäre zu einfach. Das gesamte soziale und politische System des damaligen Russland, das nur mit viel Mut und Mühe hätte geändert werden können, führte zur Revolution.

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Die Erzählung beginnt mit den ersten Zeichen der revolutionären Krise 1891 und endet 1924 mit dem Tod Lenins, dem Anführer der Revolution. Doch immer wieder schaut Figes auch weiter zurück zur Entstehung der Romanow-Dynastie, zur späten Abschaffung der Leibeigenen im Jahr 1861, zur Ermordung des Zaren Alexander II. und anderen Ereignissen, die notwendige Reformen verhinderten. Einfach und verständlich erklärt der Autor die Struktur der damaligen russischen Gesellschaft (Leseprobe 3).

Immer wieder sucht Figes Unterstützung für seine Thesen bei den russischen Klassikern: „Wie die Leser Gogols wissen werden, war der kaiserliche Beamtenstand besessen von Rang und Hierarchie„. „Literatur„, glaubt Figes, „war im modernen Russland immer ein Ersatz für Politik. …Wo glaubwürdige Politiker fehlten, suchte die russische Öffentlichkeit bei ihren Schriftstellern nach moralischer Führung im Kampf gegen die Autokratie„.

Sehr gut und passend sind auch Vergleiche von damaligen und heutigen Politikern (Leseprobe 4: Vergleich von Stolypin und Gorbatschow).

Bei seiner Recherche hat Figes alle erdenklichen Quellen benutzt. Neben offiziellen Dokumenten spielt dabei private Korrespondenz, Notizen und Tagebücher eine wichtige Rolle.

Ergänzt wird das fast 1000-seitige Werk durch Kartenmaterial und Fotos aus verschiedenen Epochen, die damalige Geschehnisse und das Alltagsleben anschaulich machen.

Sehr empfehlenswert für alle, die sich für Russland interessieren!

Leseproben aus dem Buch von Orlando Figes „Die Tragödie eines Volkes“

Die Tragödie eines Volkes: Leseprobe 1

Die Rudnews, eine mittelgroße Landbesitzfamilie in der Provinz Simbirsk, waren ein typisches Beispiel. Sie hatten beschlossen, auf ihrem Familiengut zu bleiben, weil sie meinten, wie Semjon Rudnew sagte, „die revolutionären Unruhen würden auf dem Land weniger heftig sein als in den Städten und die wirtschaftlichen Bedingungen des Dorfes mit seiner fast ausschließlichen Naturalwirtschaft besser“. Ihr Dorf blieb vom Aufruhr von 1917 weitgehend verschont. Die Rudnews verbrachten den Sommer und den Herbst in gewohnter Muße: „Die Männer tranken und gingen auf die Jagd, Gäste aus Simbirsk kamen uns besuchen, und wir fuhren zum Picknick und zum Pilzesammeln nach Naschim und zum Milchhof.“ Im drauffolgenden Winter entsprachen sie der Forderung der benachbarten Dorfgemeinde, ihr Land und Eigentum auf die Bauern zu übertragen. Sie behielten nur ein kleines Landstück von 20 Desjatinen (etwa 22 Hektar) in der Nähe ihres Gutshauses, in dem sie weiterhin wohnten. Das Vieh und die Geräte wurden zu Sonderpreisen versteigert, obwohl die meisten Bauern sich nicht einmal das Futter für ihre neuen reinrassigen Pferde leisten konnten und diese immer wieder um Heu zu ihren alten Besitzern zurückliefen. Die Bauern arbeiteten im Frühjahr auf den Rudnew-Feldern und wurden in Wodka und Fruchtlikör bezahlt. Die Ernte war größer als die der Bauern, und so befahl die Gemeinde den Rudnews, ihren Getreideüberschuß zu Festpreisen an die Dorfarmen zu verkaufen. Doch kurz bevor die Ernte eingebracht werden konnte, wurde das Gutshaus von einer örtlichen Abordnung der Roten Garden überfallen und geplündert, und die Rudnews wurden zur Flucht gezwungen.

Die Tragödie eines Volkes: Leseprobe 2

Während sich das Russische Reich am Rande des Zusammenbruchs bewegte, reagierte das zaristische Regime mit seiner üblichen Inkompetenz und Halsstarrigkeit auf die Krise. Witte nannte es eine „Mischung von Feigheit, Blindheit und Dummheit“. Das Grundproblem war, das Nikolai vor dem Ernst der Lage die Augen verschloss. Während das Land immer tiefer im Chaos versank, füllte er weiter sein Tagebuch mit knappen und trivialen Notizen über das Wetter, die Gesellschaft bei Tee und die Anzahl Vögel, die er an dem betreffenden Tag geschossen hatte. Seine Berater überzeugten ihn, dass ausländische Agenten für die Demonstration am Blutsonntag verantwortlich gewesen seien, und dementsprechend füllte er die Gefängnisse mit den passenden politisch Verdächtigen. Eine sorgfältig ausgewählte Delegation von „verlässlichen“ Arbeitern wurde nach Zarskoje Selo bestellt, wo sie wie Kinder in einer Reihe aufgestellt wurden, um eine kurze Ansprache des Zaren anzuhören, in der er sie beschuldigte, sie hätten sich von „ausländischen Revolutionären“ täuschen lassen, dann aber versprach, „ihnen ihre Sünden zu vergeben“, weil er an ihre „unerschütterliche Ergebenheit“ ihm gegenüber glaubte. Inzwischen wurde der liberale Mirski als Innenminister durch den anständigen, aber gefügigen A.G. Bulygin ersetzt. Er handelte praktisch nur auf Anweisung seines eigenen Stellvertreters und Polizeichefs, D. F. Trepow, des strengen Zuchtmeisters der Reitergarde, den Nolokai wegen seiner offenen, soldatischen Haltung mochte und deshalb zu einer einflussreichen Kraft bei Hofe hatte werden lassen. Als Bulygin erwähnte, dass vielleicht politische Konzessionen notwendig seien, um das Land zu beruhigen, war Nikolai überrascht und sagte dem Minister: „Man könnte meinen, Sie fürchteten, es werde eine Revolution geben.“ – „Ew. Majestät“, kam die Antwort, „die Revolution hat bereits begonnen.“

Die Tragödie eines Volkes: Leseprobe 3

Russlands kaiserliche Bürokratie war eine Elitekaste, die über dem Rest der Gesellschaft stand, in diesem Sinne der kommunistischen Bürokratie, die auf sie folgen sollte, nicht unähnlich. Das zaristische System beruhte auf einer strengen sozialen Hierarchie. An ihrer Spitze stand der Hof; die tragenden Säulen darunter in Beamtenschaft, Militär und Kirche kamen aus den beiden obersten Klassen; am unteren Ende der Gesellschaftsordnung befanden sich die Bauern. Es bestand ein enger Zusammenhang zwischen der Autokratie und dieser starren Pyramide von gesellschaftlichen Klassen (Adel, Geistlichkeit, Kaufmannschaft und Bauern), die entsprechend ihrem Dienst am Staat durch spezifische Rechte und Pflichten definiert war. Nikolai verglich sie mit dem Patrimonialsystem. „Ich betrachte Russland als einen Landbesitz, dessen Eigentümer der Zar, dessen Verwalter der Adel und dessen Arbeiter der Bauern ist“, erklärte er 1902. Er hätte keine archaischere Metapher für die Gesellschaft an der Schwelle zum 20. Jahrhundert wählen können.

Die Tragödie eines Volkes: Leseprobe 4

Wenige Persönlichkeiten der russischen Geschichte sind so umstritten wie Pjotr Arkadjewitsch Stolypin (1862-1911), Russlands Premierminister von 1906 bis zu seiner Ermordung fünf Jahre später. …Seine Geschichte ähnelt sich in vieler Hinsicht der von Michail Gorbatschow. Beide waren mutige, intelligente und zielstrebige Staatsmänner, die sich ganz der liberalen Reform eines alten und zerfallenen autoritären Systems verschrieben haben, dessen Produkt sie selbst waren. Beide wandelten auf einem schmalen Grat zwischen den mächtigen Interessen der alten herrschenden Eliten und der radikalen Opposition der Demokraten. Auf unterschiedliche Weise waren sie blind dafür, dass die beiden gegnerischen Parteien es auf einen Kollisionskurs abgesehen hatten und dass der Versuch, zwischen ihnen zu vermitteln, ihnen nur Feinde in beiden Lagern schaffen und wenig Freunde bringen könnte. Sie versuchten, ihre Reformen bürokratisch von oben durchzusetzen, ohne sich um eine breite Basis dafür zu kümmern – und das ist mehr als alles andere der Schlüssel zu ihrem politischen Scheitern.

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